Jill

Wie fühlt sich das Leben an mit Autismus und ADS-Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (also Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität)? Dies ist eine psychische Störung, die schon im Kindsalter auftritt und beinhalten Probleme mit der Aufmerksamkeit. Nun ich bin dieser Antwort ein grosses Stück nähergekommen. Ich durfte Jill und ihre Geschichte besser kennenlernen, wie sich das Leben anfühlt, mit einer solchen Diagnose und was sie im Laufe ihres Lebens geprägt hat.  

Schon als kleines Kind hat Jill schnell gemerkt: «mhhhh ich bin nicht so wie viele andere in meinem Alter.» Sie hatte bereits in früher Kindheit sehr ausgeprägte Wutausbrüche, welche sich sehr stark gezeigt haben und bis zur Ohnmacht führten. Sie konnte ihre Wut nicht kontrollieren, es passierte plötzlich. Ihre Mutter lebte ständig in Sorgen und stellte sich öfters die Frage, «wann passiert es das nächste Mal?» Auch nach mehreren Abklärungen beim Arzt konnte ihnen nicht geholfen werden, alle waren planlos. Jill erzählte mir, dass ihre Kindheit im Allgemeinen sehr prägend war, sie wurde in der Familie oft als die Laute und Freche betitelt, doch sie konnte nicht anders. Jill kehrte immer wie mehr in sich hinein.  

Nach Wutanfällen verschwand sie in ihrem Zimmer, hat Sachen um sich geworfen, um diese unerklärliche Wut und Energie aus ihrem Körper zu schlagen. Durch die vielen abwertenden Reaktionen ihrer Umwelt fühlte sie sich immer weniger verstanden. Auch als sie in die Schule kam wurde es nicht besser. Durch das ADS konnte sie mit dem Frontalunterricht nichts anfangen, nahm sich aber vor, zuhause alles nachzuholen. Sie setzte sich stundenweise an ihren Schreibtisch versuchte den Fokus auf ihr Tun zu behalten und trotzdem funktionierte es nicht. Durch diese Lernbarriere, welche sie hatte, fiel sie vermehrt negativ auf und bekam dies zu hören und spüren. Jill erklärte mir während des Interviews, dass es für Sie schwierig war zu verstehen, wieso andere gewisse Dinge einfach konnten und es bei ihr nie klappte, obwohl sie sich doch so sehr bemühte. Sie konnte es sich nicht erklären. 

Auf einmal kam etwas ganz Besonderes in ihr Leben, das Schwimmen. Jill begann mit dem Leistungssport, wo sie enorm erfolgreich wurde. Sie konnte während des Schwimmens ihre gesamte Wut herauslassen. Jill`s Wutausbrüche begannen sich drastisch zu verringern. Die Sportart wurde immer mehr zu einer Art Bewältigungsstrategie, um mit ihren negativen Gefühlen umgehen zu können. Auch die klare Routine: Aufstehen, Schule, Schwimmen, Hausaufgaben und Schlafen waren für sie das Wichtigste zu dieser Zeit, so hatte Jill keine leeren Lücken in ihrem Tagesablauf.  

Den Anschluss zur Aussenwelt zu finden war und ist bis heute ein schwieriges Thema für Jill. Sie möchte so sein, wie sie ist, die «crazy Jill», wie sie so schön sagt. Doch das kann Sie nur, wenn sie bei nahestehenden Personen ist, bei denen sie weiss, sie wird so akzeptiert wie sie ist. «Autisten fühlen sich wie Aliens hat es immer geheissen», sagte Jill zu mir. Ich fragte darauf wieso dieser Vergleich?  

Jill holte aus, «Der Alltag ist so überfordernd, die Geräusche, das Licht, die Fremdwahrnehmung der Welt, fremde Menschen, Menschenmengen oder die Kommunikation, mit der man oft auf seine Grenzen stösst. Es scheint mir so, als ob es noch eine andere Welt da draussen geben müsste, die mich auffängt und mir zeigt, dass das Leben gar nicht so viele Hürden mit sich bringt. So kann ich sehr gut nachvollziehen, dass sich manche wie Ausserirdische fühlen, egal wie sehr man sich bemüht, man fühlt sich nie wirklich angekommen. Ich denke genau das macht es so schwierig und anstrengend, denn jeder Mensch egal ob Autist oder nicht, hat das Bedürfnis, sich zuhause und geborgen zu fühlen.»  

Natürlich war meine nächste Frage, ob sie das auch so fühlt, sie stimmte mir mit einem klaren «Ja» zu. Ihr «Ich», probiert sich ständig zu verstecken, um nicht aufzufallen und trotz all ihrer Mühe hört sie immer wieder, dass sie komisch ist. «Wie bekommst du das zu hören oder zu spüren? Durch Blicke zum Beispiel?» «Nun Beides», antwortete sie mir. In den engeren Kreisen wird ihr manchmal gesagt «du bist weird», das ist für sie weniger schlimm, denn sie kennt diese Leute und weiss, dass sie ihre Geschichte kennen. Von der Gesellschaft im Einheitlichen, hört sie manchmal, wenn Andere über sie sprechen oder bemerkt starre Blicke, welche sie verfolgen. Ich fragte mich dann, ob es unangenehm ist oder ob man sich irgendwann daran gewöhnt? «Ja, in diesem Moment fühlt es sich sehr unangenehm an, doch sobald die Situation vorbei ist, geht es recht schnell wieder». Es kommt auch immer auf die Tagesstimmung an», so Jill.  

Tagesstimmung, ein Wort welches wir alle vermutlich mehr als nur gut kennen. Doch für Jill hat es eine ganz andere Bedeutung als vielleicht für viele von uns. Wir stehen auf und haben mal einen schlechten Tag oder keine Lust, was völlig in Ordnung ist. Doch Jill hat diese Stimmungsschwankungen öfters in mehreren Phasen durch den Tag verteilt, denn durch ihr ADS und vor allem in Kombination mit Autismus leidet sie unter Depressionen. Sie ist sich im Klaren darüber, dass diese Depressionen ein Bestandteil ihres Lebens sind und sie weiterhin begleiten werden. Durch Therapien kann sie vorbeugen, dass ihre Lage mehr oder weniger stabil bleibt. Manchmal holt die Realität sie jedoch ein und ihre Selbstzweifel werden riesig, sie möchte sich nicht mehr aus ihrer Wohnung bewegen, alles wird zu viel. Ich fragte sie, was ihr in solchen Phasen hilft, bzw. was sie allgemein glücklich macht. «Kreativität», war ihre Antwort. «In meine eigene Welt eintauchen und alles vergessen, das machen, wo ich gerne mache, wo ich, ich sein kann.» Jill nimmt in diesen Momenten nichts von der Umwelt wahr und kann ihren Fokus einzig und allein auf ihr Tun legen. Dabei fühlt sie sich wohl. 

Doch wie ist sie zum Entschluss gekommen sich aktiv Hilfe zu holen? «Es war ein langer Weg bis hierhin», antwortete sie mir. Von der einen Ecke wird man in die andere geschickt, in dieser Phase des Lebens, wo man nur noch wissen möchte was mit einem los ist und sich immer wieder aufs Neue fragt: «wieso bin ich so?». Als sie aus ihrem Elternhaus auszog, begann sie immer mehr die Zeit einzuholen. Jill fing an vieles zu verarbeiten, da sie nicht mehr da war, wo damals viele Szenarien stattfanden. Alle diese Wutausbrüche, die Trauer, die Angst und Erinnerungen aus der Kindheit, welche sich in den Räumlichkeiten des Elternhaus ereigneten. Aufgrund eines Zusammenbruchs wurde Jill in einer Tagesklinik aufgenommen. Dort begann sie sich selbst zu entdecken und einen Weg zu sich selbst zu finden. Verschiedene Therapeuten, welche sie betreuten, gaben ihr teilweise unterschiedliche Vermutungen und Diagnosen zu ihrem sein. Diese Zeit war für Jill mit sehr viel Unsicherheit verbunden, sie wusste nicht wem sie nun glauben soll.  

Als sie dann nach langem abwarten endlich einen Termin zur Abklärung hatte, war das für Jill ein grosser Schritt in die richtige Richtung. Sie hatte endlich das Gefühl schon bald ihr «ich» besser verstehen zu können. Nach ganzen drei Abklärungsterminen stand fest, Jill hat Autismus, mit ADS (Aufmerksamkeitsdefizitstörung). Da stand sie nun mit ihren zwei Diagnosen. Sie konnte sich nun nach sehnlichem erwarten endlich so viele Situationen erklären.

Trotzdem fragte ich mich, wie die Zeit für Jill war, als sie warten musste, bis etwas festgestellt wurde. «Nervenaufreibend und mit viel Unsicherheit verbunden, da in der Klinik manche Therapeuten etwas komplett anderes vermutet haben.» Zudem war da auch noch die Angst, was ist, wenn sie nichts finden.   

Nach der offiziellen Diagnose eines Doktors, muss man sich vom Umfeld oder manchen Therapeuten noch immer anhören, dass Jill kein Autismus hat. Es ist ihr nicht immer anzumerken, da sie gelernt hat sich an die neurotypische Welt anzupassen und zusätzlich kein Extremfall ist. Solche Bemerkungen führen immer wieder zur Unsicherheit.  

Doch egal was jemand meint zu behaupten, es steht fest. Und dies erleichtert sie umso mehr und macht sie glücklich, da die Diagnose auf ihre Persönlichkeit zutrifft und sie jetzt Klarheit über sich selbst hat. Sie hat nun etwas, dass sie schwarz auf weiss in ihren Händen halten kann.  Etwas das all ihre chaotische Gefühlswelt und ihre Unsicherheit aufgeräumt hat, etwas das ihr Sicherheit gibt.  

Was ist normal? «Nichts ist normal», war die erste Reaktion auf die Frage. Nachdem sie Zeit hatte, die Frage auf sich wirken zu lassen, sagte Jill zu mir: «Nur die schöne Vorstellung der Gesellschaft bildet das Wort normal. Eine gewisse Neutralität ist gut, dennoch ist jeder Mensch in bestimmten Bereichen seines Lebens “normal”, sticht dafür aber in anderen Bereichen mehr hinaus. Die Einen mehr, die Anderen weniger.» Auch das Thema Medikamente für das ADS ist ein grosses Thema. Jill findet es deprimierend, dass so viele Betroffene Medikamente nehmen «müssen», damit sie weniger Barrieren haben und mehr von der Gesellschaft wahrgenommen werden, da sie sich dadurch “anpassungsfähiger” werden. 

Zum Ende des Interviews sagte Jill etwas sehr Bedeutsames. «Ich finde es darf Normalität werden solche Einschränkungen zu haben, ich stehe dazu und gebe meine Diagnose preis, obwohl man sich immer und immer wieder Negatives anhören muss. Es ist fix ein Teil von mir. Ich bin stolz darauf, wie ich bin. Es macht mich einzigartig und so ist jeder Mensch auf seine ganz eigene Art und Weise ein Individuum.» Ganz in meinem Motto und wofür diese Arbeit steht “be unique”. 

Im Sommer startet Jill ein Studium. Das erste Mal beginnt sie etwas Neues mit dem Wissen über ihre Diagnose und sie freut sich riesig auf diesen Weg. Ich bin mir sehr sicher, dass Jill das hervorragend meistern wird, denn in ihrem Studiengang handelt es sich um Kreativität, das Fachgebiet welches Jill in ihre eigene Welt tauchen lässt.  

In diesem Sinne liebe Jill, wünsche ich dir für deinen weiteren Weg nur das Beste!  

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